In ihrem Gastbeitrag beschreibt Anja Müller von Himmelsritt Gleitschirm Tandemflüge, wie sehr wir schon zu Beginn unseres Lebens in geltende Ansprüche einsortiert werden und damit früh in eine Schleife unendlich vieler Vergleiche geraten. Auch hochsensible und hochbegabte Menschen kennen das nur zu gut - fühlen sie sich doch am wohlsten, uneingeschränkt und ohne Beurteilungen von außen allein aus ihrer intrinsischen Motivation heraus handeln zu können.
Anja ist für die Organisation der Tandemflüge und die Betreuung der Passagiere im Vorfeld zuständig. In ihrem eigenen Blog stellt sie vielfältige Zusammenhänge aus ihrer Arbeit zum alltäglichen Leben her. So kennt sie mittlerweile die unterschiedlichsten Beweggründe fürs "Abhebenwollen" und beobachtet beim Austausch im Anschluss an die Flüge genau, welche Effekte dieses Erlebnis auf ihre Passagiere mit sich bringt.
von Anja Müller
Rund um die Uhr wird neues Leben in unsere schöne Welt geboren – überall, zu jeder Zeit und unter den verschiedensten Bedingungen und Voraussetzungen: allein kulturelle, religiöse, gesellschaftliche und das direkte Umfeld betreffende Parameter machen jedes neue Menschenleben individuell und einzigartig.
Und dennoch – direkt mit der Geburt geht es los: das nie mehr endende Vergleichen. „Unser Sonnenschein wurde heute um 12:47 Uhr mit 2.950g, 48 cm Kopfumfang und einer Größe von 52 cm geboren.“
Eine derartige Nachricht – naja, viel mehr diese bloße Information - erreicht in unseren Breiten direkt nach der Ankunft eines neuen Erdenbürgers Freunde, Verwandte und Familie. Ok, fairerweise steht meistens noch der Name (und damit im besten Fall auch das Geschlecht) mit drin. Und die Empfänger legen dann fröhlich los: Das Kind ist ja groß, klein, schwer, „ein richtiger Brocken“ oder „eher schwächlich“ – irgendwas fällt jedenfalls jedem ein, immer im Vergleich zu einer allgemein geltenden Norm.
Aber WER wurde denn da eigentlich geboren? Ist er/sie niedlich, friedlich oder lustig? Vielleicht agil, schläfrig oder ganz entspannt? Laut brüllend oder leise zufrieden? Tja, keine Ahnung… was zählt, um zu beurteilen, wurde ja schließlich mitgeteilt.
Als nächstes geht‘s zur ersten ärztlichen Untersuchung, zum ersten wirklich amtlichen Vergleich. Mit dem Ergebnis „gesund" oder nicht. Richtig oder falsch. Liegt das Kind innerhalb bestimmter Kriterien bezüglich seiner Größe, des Gewichts, des Bewegungsapparates und der Reaktionen?
Bis hierhin (und auch das weitere Kleinkindalter hindurch) sind unsere Vergleiche extern – also Babys und Kleinkinder werden von ihrem Umfeld mit anderen Babys und Kleinkindern verglichen, sie tun es nicht aktiv selbst. Welches Baby bewegt sich in der Krabbelgruppe am meisten? Welches ist das größte/schwerste? Wann krabbelt mein Kind, und krabbeln dann andere auch schon – ist es das erste (und somit beste)? Wann fängt es an zu sprechen – ist das auch „im Rahmen“? Wie „weit“ ist mein Kind?
Dann beim Kinderturnen die ersten zaghaften Anbahnungen: der weiteste Hüpfer wird mit einer Urkunde bedacht, nach der schnellsten Runde beim Laufen der Sieger gekürt und Eltern freuen sich über die Erzählungen der Kinder, die „schneller waren als alle anderen“ oder „weiter werfen können als der Rest der Gruppe“. Super, ein dickes Lob! Eltern glücklich gemacht!
Und dann kommt’s ganz dicke: es geht nämlich in die Schule. Notensystem und Leistungsdenken bringen uns alle direkt hinein in den permanenten, und von hier an aktiven Selbstvergleich mit der „Referenzgruppe“ - unseren Mitschülern. Es ist nicht möglich sich da rauszuziehen, da alles Weitere (Versetzung, nächste Schulform, …) direkt an dieses System anknüpft und die Grundlage für alles Weitere bildet.
Aber: Was kann denn das Kind aus sich heraus besonders gut? Was mag es gern tun? Worin vertieft es sich? Das kann höchstens in der übrig gebliebenen freien Zeit von den Eltern beobachtet werden, fällt aber hinter den schulischen Leistungen in jedem Fall zurück – denn die sind es ja schließlich „die entscheidend für die Zukunft sind“! Oje ...
Unabhängig also von den ganz individuellen Voraussetzungen eines jeden Kindes (körperliche und geistige, bestimmte Vorlieben und Talente, Charaktereigenschaften ...) werden wir ab dem Alter von ca. sechs Jahren anhand eines festgelegten, allgemeingültigen Rahmens „benotet“ und miteinander verglichen – und je nachdem, wie gut wir uns mit unseren individuellen „Mitgiften“ in diesem Rahmen zurechtfinden können, werden die Weichen für unsere Zukunft auf „einfach“ oder „holprig“ gestellt.
Ist daheim im Vorschulalter noch jede neue Entdeckung, alles neu Erlernte ein Grund zu riesiger Freude und Stolz bei Eltern und Kind, verändert sich dies nun: „Ja, die 2 in Mathe ist super – was hatten denn die anderen so?“ Plötzlich ist eine erbrachte Leistung weniger wert, weil andere dasselbe erreicht haben oder besser waren. Ergibt das einen Sinn?
Kinder begreifen dieses System (besonders wenn sie dank ihrer „Mitgifte“ gut hinein passen) noch nicht so wirklich, es wirkt sich aber trotzdem bereits ganz früh auf einen jeden von uns aus – und das ist viel schlimmer. Die eigene Zufriedenheit beginnt plötzlich in direkter zu einer wie auch immer gearteten Vergleichsgruppe zu stehen: Abhängigkeit.
„Kann ich etwas besser als ...?“ „Habe ich genauso viel/mehr als …? „Bekomme ich genauso viel/mehr …?“
Hieraus resultiert, dass wir bestimmten Zielen hinterherlaufen (in der Regel keine selbst gesteckten), um mit unserer jeweiligen Vergleichsgruppe mitzuhalten. Aber: Schafft das Erreichen dieses Ziels auch dann noch Zufriedenheit, wenn es alle anderen auch erreichen? Wohl kaum. Viel zu sehr sagt uns unsere Prägung, dass das Erreichen dieses Ziels nun, da alle es erreicht haben, nichts Besonderes mehr ist.
Wir wollen zu jeder Zeit schlauer, besser, schöner, vermögender, … sein als andere. Am besten als alle anderen. Als die ganze Welt. Das macht dann zufrieden. Oder?
„Niemand macht in Deiner Situation eine bessere Figur als Du!“
Vergleiche mit anderen machen doch nur dann Sinn, wenn die Vergleichsgruppe auch wirklich eine ist und wenn wir uns auch vergleichen wollen. Hast Du Dich zum Beispiel schon einmal gefragt, was Deine „äußeren Parameter“ sind, was Dich überhaupt befähigt und begrenzt? Welche Voraussetzungen hast Du als Person: Was sind Deine Stärken und Schwächen? Was willst Du eigentlich – was sind Deine Träume und Wünsche?
Auch der Weg an ein Ziel verdient eine nähere Betrachtung
Erreichst Du Deine Ziele vielleicht langsamer als andere, dafür aber nachhaltiger? Erreichst Du sie, indem Du Dir treu bleibst oder musst/musstest Du Dich auch mal dafür verbiegen? Jeder von uns lebt sein Leben. In seinem Umfeld, mit seinen ihm/ihr gegebenen Möglichkeiten, gemachten Erfahrungen, gesammeltem Wissen und vielem mehr, was uns einzigartig macht. Und kein Mensch auf dieser Welt steckt vor diesem gesamtheitlichen Hintergrund betrachtet in exakt derselben Situation wie ein anderer Mensch.
Du solltest also mit dem was Du kannst, magst und möchtest mit genau Deinem Hintergrund das machen, was sich für Dich gut und richtig anfühlt – es ist unmöglich, hier auch nur ansatzweise einen Vergleich mit jemand anderem versuchen zu wollen ...
Das kann ja jeder!
Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie die Erfahrungen der Kindheit das Leben hochbegabter Erwachsener beeinflussen, dann lies dazu auch meinen Blogartikel Hochbegabte Kinder - ihre Wahrnehmung, ihre Bedürfnisse und der Blick des Umfelds
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